2020 Corona - Klima muss warten 202012
Nein, das sind nicht die Seifenblasen, die vom nahen Kanzleramt aufsteigen, sondern die hier macht ein braver Straßenkünstler direkt vor dem Brandenburger Tor.
Seit 2015 haben wir in jedem Jahr die wichtigsten Fakten der deutschen Klimapolitik zusammengestellt. Dabei konnten wir nur über ein mühsames Dahinschleppen berichten, hauptsächlich "Kommissionen" und Ankündigungen - und nur wenig praktische Fortschritte.
Lt. Klimaschutzbericht der Bundesregierung für 2019 soll bis dahin eine Minderung der Treibhausgas-Emissionen von 35,7 % gegenüber 1990 erreicht worden sein. Klingt ganz gut gegenüber dem amtlich verkündeten Zwischenziel von 40 % bis 2020; ist aber viel zu wenig gegenüber dem ebenfalls "offiziellen Ziel" der Begrenzung des Temperaturanstiegs auf 2 Grad Celsius, "möglichst nur 1,5 Grad" gegenüber dem Beginn der Industrialisierung (1800/1850).
Hierfür hat die Wissenschaft - seitens der Politik unwidersprochen - ein "Budget" errechnet. Das ist die Menge an Treibhausgasen, die von der Menschheit noch emittiert werden darf, wenn die Erwärmung nicht über 2 Grad oder besser 1,5 Grad steigen soll. Wenn wir weitermachen wie bisher - nämlich immer noch ansteigende Emissionen - müssten spätestens 2025 eine harte "Vollbremsung" kommen und die Emissionen dann jedes Jahr in großen Sprüngen heruntergedrückt werden, um 2034 null zu erreichen. Wenn wir jetzt - endlich - stärker bremsen würden, bliebe Zeit für eine sanftere Anpassung auf Null Emissionen bis etwa 2045.
2020 ist der Klimaschutz in Deutschland gar nicht voran gekommen; außer dass durch coronabedingte Einschränkungen des Konsums manche Emissionen - vorübergehend - zurückgegangen sind. Am 10.12.2020 titelt der TAGESSPIEGEL auf der ersten Seite: "Merkel kämpft, Merkel fleht". Da ging es im Bundestag aber um Corona-Maßnahmen zu Weihnachten, nicht um den seit Jahrzehnten vernachlässigten Klimaschutz. Wenn sie will, kann sie also auch unpopulär. Wir finden, dass das totale Verweigern beim Klimaschutz umso schwerer wiegt.
Der Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU, 7 Professor*innen, von der Bundesregierung berufen, um diese zu beraten) veröffentlicht am 9.12.2020 ein "Impulspapier", in dem er alle Parteien auffordert, die "letzte realistische Chance" zu nutzen und für die Bundestagswahlen 2021 Programme zu erarbeiten, in denen der Klimaschutz zentrale Bedeutung hat. Das 6-seitige Impulspapier finden Sie hier.
Dann gab es wieder mal eine Kommission, die Kohlekommission, die ihren Bericht im Januar 2019 vorgelegt hat.
278 Seiten, schwer zu lesen bei dem Umfang und den bekannten Phrasen ("Arbeitsplätze", "soziale Abfederung", "Versorgungssicherheit", "Schaffung einer konkreten Perspektive" usw.) und heute schon wieder Makulatur.
Es geht um vier Braunkohlereviere: Helmstedt 150 direkt Beschäftigte; Lausitz (8.000); Rheinland (9.000); mitteldeutsches Revier (2.400). Zu den direkt in Kohleabbau und Kraftwerken Beschäftigten rechnet der Bericht noch jeweils die doppelte Anzahl "indirekt" von der Braunkohle abhängiger Arbeitsplätze hinzu und kommt so auf etwa 60.000. Diese Zahlen sind nicht neu. Wenn sich der Braunkohleausstieg tatsächlich bis 2038 hinziehen sollte, wird ein großer Teil der heute Beschäftigten schon Altersrente beziehen. Erstaunlich niedrig sind schon heute die Anteile der Bruttowertschöpfung durch die Braunkohle in den Revieren, nämlich ca. 4,3 % in der Lausitz und 2,6 % im Rheinischen Revier.
In seiner Stellungnahme vom Oktober 2017 weist der SRU darauf hin, dass in Deutschland schon weit größere Umstrukturierungen bewältigt werden mussten, wie z.B. der Wegfall von 500.000 Arbeitsplätzen in der Textilindustrie (1970-1984); 300.000 in der Stahlindustrie (1975-1984) und andere. Die Braunkohle der ehemaligen DDR hat 1990-2000 einen Abbau von 100.000 auf 10.000 Arbeitsplätze erlebt. In der jungen Solarindustrie sind nach der abrupten Änderung der Fördersätze 2012/13 über 45.000 Arbeitsplätze verloren gegangen - ohne besondere Anteilnahme der Politik.
Warum also wird der unvermeidliche Kohleausstieg seit Jahren nur mit immer neuen Ausreden hinausgeschoben?
Der auffälligste Teil des Berichts war die empfohlene Subventionierung aus Bundesmitteln mit 40 Mrd. € über die nächsten 20 Jahre. Die Zahl hat es bis in die ZDF Heute-Show geschafft ("Eine Million € für jeden Beschäftigten"). Die regierenden Parteien würden mit dem Geld vielleicht weniger locker umgehen, wenn nicht in diesem Jahr Landtagswahlen in drei der betroffenen östlichen Bundesländer gewesen wären.
Aber alles sind nur Vorschläge; die 40 Mrd. € sicher mit Rückendeckung der Politik. Bis auf das geplante Wahlgeschenk steht auch nichts Neues darin. Wer sich über die Fakten informieren will, findet alles besser und kürzer schon in der SRU-Stellungnahme vom Oktober 2017. So entpuppt sich die Einsetzung der Kohlekommission wieder nur als Trick zum Hinausschieben wirklicher Entscheidungen.
Wieder ein Jahr verloren. Der Klimawandel wartet nicht - so wollten wir den Beitrag abschließen. Aber dann endlich eine positive Überraschung.
Die Umweltministerin Svenja Schulze (SPD) legt Ende Februar einen Entwurf für das Klimaschutzgesetz vor. Bisher hatte sie nur lieb und nett agiert - wie es dem niedrigen Stellenwert des Umweltschutzes in dieser Regierung zukam. Die üblichen Bremser reagieren wie üblich, fühlen sich "übergangen" usw. Sie kontert - zu Recht - dass so etwas ja im Koalitionsvertrag ausdrücklich vereinbart sei, und zwar für das Jahr 2019. Und da die anderen Ressorts keine Anstalten machten, habe sie eben die Initiative ergreifen müssen. Und eine weitere freudige Überraschung: sie bekam sogar - vorübergehend - Rückendeckung von ihrer Partei (Nahles, Scholz).
Der Gesetzentwurf präzisiert die Klimaziele für 2050 und 2030 und legt für jedes Jahr - beginnend mit 2020 und aufgeschlüsselt auf die "Sektoren" Energie, Verkehr, Gebäude und Landwirtschaft - die Zwischenziele fest, die nicht mehr überschritten werden sollen. Wer es bei der Benennung der "Ziele" 2030 und 2050 ehrlich gemeint hat, müsste dem zustimmen. Es soll vermieden werden, dass wieder jahrelang nichts getan und dann kurz vor 2030 "festgestellt" wird, dass die Ziele nun nicht mehr zu erreichen seien - wie schon so oft.
Der Gesetzentwurf lag seitdem im Kanzleramt. Am 14.3.2019 Beschluss, ein "Klimakabinett" zu bilden mit den betroffenen Ministern. Die sind dann - bis auf Schulze - zufällig alle von der CDU/CSU. Aber Nahles "freut sich" (Twitter 15.3.), dass der Klimaschutz "zur Chefsache geworden" ist. Und auch Schulze "freut sich" (Twitter 16.3.), "dass mein Kollege @AndiScheuer nochmals bestätigt, dass er sich den Klimaschutz-Zielen im Verkehrssektor verpflichtet fühlt".
Also schon wieder Schluss mit der Profilierung? Ausschüsse und ähnliches haben bisher nur das Ergebnis gehabt - und wohl auch den Zweck - wirkliche Entscheidungen weiter zu verzögern. Auch in 2019 weiter so?
Die von der schwedischen Schülerin Greta Thunberg im Herbst 2018 begonnenen Streiks "Fridays for Future" haben sich in wenigen Monaten zu einer weltweiten Bewegung entwickelt. Am 15.3.2019 demonstrieren mehr als 1,4 Mio. junge Leute in 125 Ländern mit der Forderung, dass die Politik endlich den Wissenschaftlern folgt und praktische Maßnahmen einleitet statt nur Sprüche zu klopfen.
19.000 Wissenschaftler allein aus dem deutschsprachigen Raum schließen sich innerhalb weniger Tage an.
Die "Kinder" sind großartig. Sehr cool weisen sie dumme Sprüche und Anbiederungsversuche von Politikern zurück: "Ihr stehlt uns unsere Zukunft. Wir wollen keine Sprüche; wir wollen, dass Ihr endlich etwas tut!"
Hans Joachim Schellnhuber, der weltweit anerkannte Gründer des Potsdam Instituts für Klimafolgenforschung, am 15.3.2019 im ZDF:
-
"Es passiert im Augenblick etwas möglicherweise Einmaliges. Es gibt einen Schulterschluss zwischen den Wissenschaftlern und den Kindern."
Am 20.9.2019 demonstrieren weltweit 2,7 Mio. für mehr Klimaschutz, davon allein in Deutschland 1,4 Mio. Als bekannt wird, dass das bald danach vom Bundeskabinett verabschiedete "Klimapaket" wieder weit hinter den Anforderungen der Wissenschaft zurückbleibt, twittert Luisa Neubauer - die Sprecherin der deutschen Fridays-for-Future-Bewegung: "Was sollen wir noch machen? Wenn 1,4 Mio. nicht reichen ... wenn 26.000 (Anm.: Wissenschaftler) nicht reichen ... wenn 10 Monate Streiks nichts ausrichten, was dann?"
Der am 9.10.2019 vom Bundeskabinett beschlossene Entwurf des Klimaschutzgesetzes (KSG) wird überwiegend als nicht ausreichend abgelehnt. Aber wir wollen Ihnen ja immer die Fakten bringen:
-
Kernstück ist die Tabelle mit den jährlichen, auf die "Sektoren" aufgeteilten Emissionsmengen, die noch zulässig sein sollen. Sie gleicht im wesentlichen dem Schulze-Entwurf vom Februar 2019. Wie dieser gibt sie gerade für den Sektor mit den größten Emissionen - die Energiewirtschaft - nur Werte für drei Jahre an. Dazwischen sollen sie "möglichst stetig" sinken (§ 4 (1) Satz 4 KSG-Entwurf).
-
Falls diese Vorgaben eingehalten werden, sollen dadurch die Emissionen bis 2030 um 55 % gegenüber 1990 sinken. Die Jahreswerte ab 2031 sollen jeweils durch Verordnungen festgesetzt werden mit dem Ziel, bis 2050 Klimaneutralität zu erreichen (§§ 1, 3 und 4 (1) KSG). Gemessen an den vom Potsdam-Institut und anderen unwidersprochen veröffentlichten Budgets dauert das viel zu lange. Die Menge an Treibhausgasen, die Deutschland überhaupt noch in die Atmosphäre blasen darf, wenn wir die Erwärmung um 1,5 Grad nicht überschreiten wollen, ist schon in 10 Jahren erreicht, "wenn wir so weitermachen".
-
Die Behörden des Bundes sollen bis 2030 klimaneutral sein (§ 15 KSG). Davon abgesehen enthält das Gesetz anstelle von konkreten Regelungen, Maßnahmen oder Verboten nur die Aussage, dass die Bundesministerien dafür "verantwortlich" sind, dass die jeweiligen Ziele ihres Sektors eingehalten werden (§ 4 (4) KSG). Das soll immer nach Ablauf eines Jahres festgestellt werden. Können Sie sich vorstellen, was Scheuer/Klöckner/Altmaier sagen würden, wenn die Werte ihrer Sektoren überschritten sind?
-
Daneben enthält das "Klimapaket" 2019 noch ein "Klimaschutzprogramm 2030" (173 Seiten). Es soll "noch in 2019" vom Bundeskabinett verabschiedet werden (dann folgt Gesetzgebungsverfahren im Bundestag). Hier stehen - neben endlosen Wiederholungen - praktische Maßnahmen, die als erste eingeleitet werden sollen - z.B. die "CO2-Bepreisung". Ab 2021 sollen in den Sektoren Verkehr und Wärme alle fossilen Brennstoffe je Tonne CO2 mit 10 € belastet werden. Diese Belastung soll bis 2025 auf 35 €/Tonne steigen. Nach den Berechnungen der Wissenschaftler würden die "10 €" den Liter Benzin um etwa 3 Cent verteuern.
Dazu ein aktuelles Erlebnis: Am 1.11.2019 wollte unser Autor an einer freien Tankstelle in Brandenburg/Havel tanken. Gegen 13:00 Uhr kostete der Liter Super 1,389 - da war es ihm aber zu voll. Als er um 13:55 Uhr getankt hat, kostete der Liter 1,429 und als er fünf Minuten später an der Kasse stand, war der Preis wieder gesenkt, auf 1,369 - 6 Cent/Liter in weniger als einer Stunde - ganz "normale" Preisschwankung. Und da sollen 3 Cent/l "Bepreisung" ab 2021 schon die Wende zu weniger CO2 im Verkehr bringen, die wiederum durch Erhöhung der "Pendlerpauschale" (ab 21 km) "sozial abgefedert" werden soll. Wie sagte die hochverehrte Bundeskanzlerin im Juni 2019 in Bezug auf den Klimaschutz: Es werde kein "Pillepalle" mehr geben.
-
Unser Fazit: Auch das "Klimapaket" 2019 ist völlig unzureichend - auch im Jahr 4 nach dem Pariser Abkommen nur scheinbarer "Kampf" gegen den Klimawandel. Wer's nicht glaubt, möge die rd. 230 Seiten des "Pakets" selber lesen. Die in einigen Jahren vom Klimawandel wahrscheinlich erzwungene Umstellung wird immer radikaler.
Die ZDF Heute Show vom 27.9.2019 nennt das Polittheater zutreffend "böswillig vorgetäuschte Klimapolitik".
22.12.2019: Die Regierungsparteien haben sich erzwungenermaßen darauf geeinigt, 2021 nicht mit einem CO2-Preis von 10 €/t sondern von 25 €/t anzufangen. Auch die mit Sicherheit zu erwartenden Verfehlungen der "Ziele" in den Ressorts Verkehr, Landwirtschaft, Energie und Gebäude können erstmals im Lauf des Jahres 2021 (für 2020) festgestellt werden - wenn dabei nicht auch wieder getrickst wird - so dass praktische Änderungen frühestens im Lauf des Jahres 2021 eintreten können. Seit der endlichen Vorlage des sogenannten Klimapakets im September 2019 sind dann schon wieder fast zwei Jahre versäumt worden. Das Budget - der zur Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels noch erlaubte Ausstoß an Treibhausgasen - gestattet dann ein "Weiter so" nur noch für 6 Jahre, so dass das nötige Umsteuern immer radikaler werden müsste.
Am 19.12.2019 ist das Bundes-Klimaschutzgesetz (KSG) verkündet worden. Es gleicht im wesentlichen immer noch dem Schulze-Entwurf vom Februar 2019; insbesondere bleibt es dabei, dass für den wichtigsten Sektor - die Energiewirtschaft - die Reduktionsziele nur für die Jahre 2020, 2022 und 2030 angegeben werden, die dazwischen weiterhin "möglichst stetig" (§ 4 (1) Satz 4 KSG) sinken sollen. Die Enttäuschung ist groß - wieder ein Jahr von der Regierung nur hingehalten worden - mit "böswillig vorgetäuschter Klimapolitik", wie es die ZDF-HeuteShow zutreffend genannt hat.
How dare you?" fragt das Mädchen aus Schweden. "Wenn Millionen von Demonstranten in Deutschland und in der Welt nicht reichen - was sollen wir noch tun?" fragt Luisa Neubauer.